Samstag, 16. Januar 2016

der anfang ist das ende ist der anfang



es ist frueher nachmittag, die sonne scheint am wolkenlosen himmel, der kuestenwind weht wie so oft recht kraeftig. ich schnapp mir den grossen rucksack und wandere rauf zum lebendigen markt unseres viertels playa ancha. auf dem weg hadere ich mal wieder mit den streitsuechtigen strassenhunden, halte zwischendurch inne und bestaune wie eh und je diese einzigartige szenerie unserer neuen heimat: den hell schimmernden pazifik, die bunten haeuser auf den huegeln, die grossen frachter in der bucht. oben angekommen scherze ich mit den haendlern oder sie eher mit mir, und lade mir die taschen voll mit frischem obst und gemuese aus der region. verschwitzt kehre ich dann zurueck in unsere wohnung, wir kochen deutsch, chilenisch, italienisch. waehrenddessen laeuft der deutschlandfunk im internetradio und informiert uns ueber fluechtlingspolitik, vw-skandal und die vierschanzentournee.


ist die arbeit fuer den tag getan, zieht es uns oft nochmal kurz an den strand. wir hoeren dem meer zu und den cumbia-klaengen des toiletten-personals. uns umgibt eine wuselige menge badegelaunter familien und eine ganze schar an haendlern, die geduldig, laut schreinend oder mit schrillen troeten eis und empanadas, pastel de choclo, gekochte eier und hotdogs, kindertattoos, sandspielzeug oder massagestunden anpreisen. den restlichen feierabend lassen wir geruhsam ausklingen mit eindruecken aus der chilenischen nachrichtenwelt im fernsehen – oder dem neuen tatort aus der ard-mediathek.


und an den wochenenden tauchen wir tiefer in unsere stadt ein, besuchen ausstellungen, reisen in das umland. oder wir brechen auf nach santiago. mit dem bus fahren wir durch die malerische weinlandschaft der bergigen region valparaísos, waehrend ich die aktuelle ausgabe der sueddeutschen zeitung auf dem e-reader lese. den zweiten teil der fahrt verbringen wir in der platzarmen metro, bei der man sich zu hochzeiten einen quadratmeter zu siebt teilt. im elternhause gómez geniessen wir die zeit mit der familie und mit freunden. auch skypen wir mit unseren liebsten in deutschland. dort liegt der schnee, bei uns drueckt die hitze. oder wir besuchen mal oma lila und opa fernando, dem vater von fernandas vater fernando. gemeinsam nehmen wir „once“, trinken tee und essen brot mit avokado und tomaten. vor der tuere treiben schafe und huehner, hunde und katzen umher. nach wie vor kuemmert sich das ehepaar auch mit ueber achtzig jahren aufopferungsvoll um ihre kleine farm...


chile. wir sind hier mittendrin, fuehlen uns voll und ganz involviert und gut integriert in die vielschichtige realitaet des landes - und leben doch in einer art zwitterwelt. tief sind wir eingebettet in der chilenischen kultur, verzueckt von der chilenischen natur, hadern mit chilenischen strukturen. gleichzeitig greifen wir zurueck auf ein deutsches netzwerk und deutsche medien, auf ein deutsches konto und die deutsche krankenversicherung. die errungenschaften der globalisierung geben viele freiheiten und ermoeglichen uns ein grenzueberschreitendes lebenskonzept, den kompromiss unserer welten.


keine frage, unser lebensstil verlangt seine opfer: ferne und heimweh, ungewissheit und risiko, kraefteraubende umstaende, missverstaendnisse und fremde – das alles gehoert dazu. doch bekommen wir viel zurueck. wir sind so ungebunden, fuehlen uns so inspiriert und ergriffen. nationalitaet rueckt in den hintergrund, traditionen verschwimmen, die welt waechst zusammen.

nur zeigt sich ein leben zwischen den grenzen nicht fuer alle von so dieser unbefangenen seite – ganz im gegenteil. dass unsere unabhaengigkeit absolut keine selbstverstaendlichkeit ist sondern vielmehr ein riesiges und recht einmaliges glueck, wird umso klarer, wenn wir um uns herum schauen. vielerorts wie gerade diese monate auch in europa und deutschland wird migration in erster linie von not und elend bestimmt. oder wenn wir zurueckblicken. fernanda wurde in eine zeit der chilenischen diktatur geboren, ich im abgeschotteten ddr-regime. wir empfinden es als grosses geschenk, dass wir die chance haben, so autonom zu leben, ueber unseren wohnort frei entscheiden, gar, dass wir ueberhaupt zu einander finden konnten.


heute vor 12 monaten landeten wir in santiago. nun geht unserer erstes gemeinsames jahr in chile zu ende. auch der blog geht hiermit zu ende. und doch ist noch so vieles so offen, dies nur eines von vielen kapiteln eines spannenden und dicken buches, das wir mitgestalten duerfen, das bislang so viele schoene geschichten, wendungen und pointen fuer uns bereit hielt. wir sind dankbar fuer diese chancen und die vielen menschen, die uns stets so treu, hilfsbereit, nah und herzlich zur seite standen. danke euch. und danke eurer interessierten leserschaft ueber all die monate. ihr seid teil dieses buches.

Samstag, 9. Januar 2016

die deutschen


im zuge der spanischen kolonialisierung landeten die ersten deutschen in chile. spaeter, anfang und mitte des 19. jahrhunderts, begannen sich deutsche kaufleute vor allem in der region valparaísos anzusiedeln. mit dem scheitern der deutschen revolution 1848/49 brachen wiederum etliche deutsche familien auf und suchten ihr glueck in der fremden heimat und menschenleeren umgebung suedchiles. ihnen folgten jahrzehnte spaeter deutsche juden und politische fluechtlinge vor und waehrend des zweiten weltkrieges. als der krieg endete, zog es ihre einstigen gegner, die nazis, in das suedamerikanische exil. und eine weitere welle der einwanderung aus deutschland erwartete chile 1990 mit dem ende der diktatur unter pinochet und der rueckkehr der exilchilenen - sowie der migration manch eines strippenziehers der ehemaligen ddr...

wenn man sich die geschichte anschaut, ist die deutschstaemmige bevoelkerung chiles ein sehr bunter haufen. gut 7.000 deutsche leben gegenwaertig hier. nach spanisch und mapudungun ist deutsch die am dritthaeufigsten gesprochene sprache des landes. etwa 500.000 chilenen haben deutsche verbindungen in ihrem stammbaum. ihre vorfahren waren freiheitssuchende, haendler, forscher und verfolgte, auch aber diktatorische parteikader, militante und faschisten.

 

der deutsche verein in valparaíso

immer wieder betont man mir gegenueber, wie gut angesehen der deutsche hier ist. verlaesslich, puenktlich, geradlienig, konsequent - eigenschaften, die man oft beim chilenen vermisse. viele wissen deutsche institutionen zu schaetzen. es gibt hier deutsche schulen und sportvereine, deutsches bier, deutsche krankenhaeuser, die deutsche feuerwehr und eine deutsche zeitung. sogar so etwas wie eine reduzierte sozialhilfe gibt es - vom deutschen verein nur fuer deutsche. die wohl staerksten akteure im hafen vor unserer tuer sind deutsche reedereien. „kinder“ und „kuchen“ sind fest verankerte woerter im hiesigen vokabular. vor kurzem bekam ich eine einladung zu einem workshop zum thema gestalttherapie: „el maratón gestaltica“. und nicht zu vergessen all die angesehenen produkte wie baumaschinen und autos, wasserkocher, toaster und lebensmittel aus deutschland.




doch es gibt auch eine ganz duestere seite der deutschen einwanderung. deutsche importierten die famose pickelhaube nach chile und waren als militaerberater hoch geschaetzt. sie gruendeten auch hier eine lokale nsdap und untersagten ihren landsleuten engere beziehungen zu „minderwertigen rassen“, also auch zu chilenen. deutsche unterstuetzten mitunter tatkraeftig pinochets diktatur. und sie fuehrten eine sekte, missbrauchten dabei etliche kinder und traumatisierten reihenweise unfreiwillige mitglieder über jahrzehnte.

so finden sich auch unruehmliche persoenlichkeiten aus deutschland in chile. in einem der gehobenen stadtteile santiagos lebt beispielsweise margot honecker. sie war nicht nur frau des staatsratsvorsitzenden der ddr, erich honecker, sondern auch ministerin fuer volksbildung und damit verantwortlich fuer politisch motivierte inhaftierungen und zwangsadoptionen. nach der wende floh sie ins exil nach chile und zeigt sich bis heute uneinsichtig.

karl werner paulmann wiederum war ueberzeugter nazi in deutschland, politisch wie militaerisch aktiver unterstuetzer des ns-regimes. nach dem krieg floh er nach chile. sein sohn ist horst paulmann, mittlerweile der zweitreichste chilene. ihm gehoert die supermarktkette jumbo, der baumarkt easy, die kaufhauskette paris. vor wenigen jahren liess er den hoechsten skyscraper suedamerikas in der hauptstadt erbauen – das costanera center, in erster linie eine mall. und auch horst paulmann werden ideologische naehe und enge beziehungen zur damaligen diktatur in chile nachgesagt. 

ich traf hier einmal einen chilenen, der vor pinochets dikatur geflohen war und viele jahre in deutschland lebte. nun ist er wieder in chile und geht ab und an mal in diese eine deutsche bar einen trinken. der besitzer habe eine faschistische vorgeschichte. ich stutzte. und er meinte, es ist nicht weiter wild. man muss vergessen koennen.

Sonntag, 3. Januar 2016

licht und schatten (2/2)



... weihnachten. zeit fuer besinnlichkeit, harmonie und einkehr. wobei: wirklich geruhsam geht es in diesen tagen eher nicht zu. wie auch in deutschland sind die strassen voll, der trubel anstrengend, der konsumrausch gross. und die warme jahreszeit verleitet zu feierlaune. doch trotz der vielen sonne und hitze orientiert sich der weihnachtskult in chile voll und ganz an den traditionen europas und der usa. tannenbaeume aus plastik stehen in den einkaufshaeusern und wohnungen. sie sind verziert mit kuenstlichem schnee. aehnlich winterlich ist die atmosphaere auf geschenkpapier und grusskarten. vor den geschaeften stehen die armen weihnachtsmaenner - dick eingepackt im roten pelzmantel. und das abendliche lichtermeer der huegel valparaísos blinkt nun ueberall blau, rot und gelb.


wie man zu der weihnachtlichen festgestaltung stehen mag, ist eine frage des individuellen geschmacks. doch stil hin oder her: auf mich wirkt vieles aufgestuelpt, nicht ganz passend zu chile. stellt euch vor, im kalten und dunklen deutschland wuerde man sich zu weihnachten strandkarten schicken, eine kuenstliche palme im wohnzimmer aufbauen und geschenke in den sand legen. ich war jedenfalls ganz froh, dass man sich auch in diesen belangen dem hiesigen motto treu blieb: man liess sich zeit und begann erst spaet mit dem dekorieren. 


richtige weihnachtsstimmung kam bei mir erst auf, als fernanda und ich das fest am vortag des heiligen abends zu zweit feierten und dabei besonders auch mir zuliebe raum fuer deutsche tradtionen schafften. die chilenische weihnachtszeremonie verbrachten wir schliesslich bei der familie in santiago. nicht wenige erledigen erst heute, am 24. dezember, die einkaeufe fuer ihre liebsten. wie ueblich kommt gegen 20 uhr nur noch wenig wasser aus den leitungen, weil sich alle bewohner der stadt zu dieser zeit duschen wollen und schick machen. anschliessend verbringen viele den lauen sommerabend in ihren gaerten, grillen, trinken, lachen. und besonders die kinder zaehlen uebermuedet die fehlenden stunden bis mitternacht, der grosse moment der bescherung. punkt null uhr werden die geschenke unter dem christbaum aufgerissen. vereinzelt ertoent feuerwerk. und die nacht klingt vielerorts ruhig aus, waehrend anderswo jetzt die grosse fiesta mit cumbia, salsa und reggaeton beginnt.


eine woche spaeter pilgert ein meer an menschen nach valparaíso, um das sagenumworbene und beruehmte feuerwerk der region zu bestaunen. auch wir hatten die familie zu gast und die wohnung brechend voll. das lichterbad ueber dem ozean ist bezaubernd und die stimmung auf den strassen herzlich und friedvoll. nach meinem geschmack liegt hier zu silvester weniger aggression in der luft als in deutschland - vielleicht auch, weil das private knallen streng verboten ist, man sich weniger der pyrotechnik und mehr der familie widmet. und da es an der kueste so schoen ist, die sonne scheint, die ferien beginnen, geht die feier an den naechsten tagen fuer viele gleich weiter. 


 es ist fuer uns eine besondere zeit. fernanda verbringt nach 10 jahren diese feiertage zum ersten mal wieder in chile bei ihrer familie. diesen augenblick sehnte sie sich damals ab und an sehr herbei. dafuer bin nun ich weit weg von der urspruenglichen heimat. und vermisse sie. mein chilenisches umfeld ist herzlich zu mir, gibt mir ein gefuehl von zu hause. doch laesst sich vieles einfach nicht ersetzen. es ist und bleibt ein teurer preis - die distanz zur familie und zu freunden, zu geschaetzten plaetzen und geliebten riten; das dilemma, mit dem sich migranten immer wieder und ganz besonders zu familienfesten arrangieren muessen: ein gespaltenes leben. licht und schatten.